Herbstgedichte Teil I.
Herbsttag
Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren laß die Winde los.
Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
gib ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.
Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.
Rainer Maria Rilke (1875 - 1926)
Rainer Maria Rilke (1875 - 1926)
Rainer Maria Rilke wurde am 4. Dezember 1875 in Prag, damals zu Österreich-Ungarn gehörend, geboren. Sein vollständiger Name lautet: René Karl Wilhelm Johann Josef Maria Rilke. Er war ein österreichischer Lyriker deutscher und französischer Sprache. Mit seiner in den Neuen Gedichten vollendeten, von der bildenden Kunst beeinflussten Dinglyrik gilt er als einer der bedeutendsten Dichter der literarischen Moderne. Aus Rilkes Werk sind etliche Erzählungen, ein Roman und Aufsätze zu Kunst und Kultur sowie zahlreiche Übersetzungen von Literatur und Lyrik bekannt. Sein umfangreicher Briefwechsel gilt als wichtiger Bestandteil seines literarischen Schaffens. Rilke verstarb am 29. Dezember 1926 im Sanatorium Valmont bei Montreux, Schweiz.
Sein Vater war Angestellter einer Eisenbahngesellschaft. Seine Mutter behandelte den Sohn bis zu seinem sechsten Lebensjahr als Mädchen (René). Sein Vater schickte ihn mit elf Jahren zur Militärschule. Die Militärjahre waren für ihn ein Alptraum und ein "undurchdringliches Verhängnis". 1891 lernte er in der Handelsakademie in Linz. 1895 machte er sein Abitur in Prag als sogenannter privater Schüler. Die Auseinandersetzung mit der Kindheit beschäftigte Rilke sein ganzes Leben. Seine wichtigsten Werke sind u.a.: Larenopfer, 1895; Traumgekrönt, 1896; Advent, 1897; Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke, 1906; Das Buch der Bilder, 1906; Neue Gedichte, 1907; Requiem, 1909; Die Sonette an Orpheus, 1923. Rilke starb am 29. Dezember 1926 in Valmont sur Territet (Schweiz).
Rilke wurde am 2. Januar 1927 – seinem Wunsch entsprechend – in der Nähe seines letzten Wohnorts auf dem Bergfriedhof von Raron (Schweiz) beigesetzt. Auf seinem Grabstein steht der von Rilke selbst verfasste und für den Grabstein ausgewählte Spruch:
Rose, oh reiner Widerspruch, Lust,
Niemandes Schlaf zu sein unter soviel
Lidern.
Abend in Skåne
Der Park ist hoch. Und wie aus einem Haus
tret ich aus seiner Dämmerung heraus
in Ebene und Abend. In den Wind,
denselben Wind, den auch die Wolken fühlen,
die hellen Flüsse und die Flügelmühlen,
die langsam mahlend stehn am Himmelsrand.
Jetzt bin auch ich ein Ding in seiner Hand,
das kleinste unter diesen Himmeln. - Schau:
Ist das Ein Himmel?:
Selig lichtes Blau,
in das sich immer reinere Wolken drängen,
und drunter alle Weiß in Obergängen,
und drüber jenes dünne, große Grau,
warmwallend wie auf roter Untermalung,
und über allem diese stille Strahlung
sinkender Sonne.
Wunderlicher Bau,
in sich bewegt und von sich selbst gehalten,
Gestalten bildend, Riesenflügel, Falten
und Hochgebirge vor den ersten Sternen
und plötzlich, da: ein Tor in solche Fernen,
wie sie vielleicht nur Vögel kennen . . .
Rainer Maria Rilke (1875 - 1926)
Die Blätter fallen
Die Blätter fallen, fallen wie von weit,
als welkten in den Himmeln ferne Gärten;
sie fallen mit verneinender Gebärde.
Und in den Nächten fällt die schwere Erde
aus allen Sternen in die Einsamkeit.
Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.
Und sieh dir andre an: es ist in allen.
Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält.
Rainer Maria Rilke (1875 - 1926)
Abendphantasie
Vor seiner Hütte ruhig im Schatten sitzt
der Pflüger; dem Genügsamen raucht sein Herd.
Gastfreundlich tönt dem Wanderer im
friedlichen Dorfe die Abendglocke.
Wohl kehren jetzt die Schiffer zum Hafen auch,
in fernen Städten, fröhlich verrauscht des Markts
geschäft'ger Lärm; in stiller Laube
glänzt das gesellige Mahl den Freunden.
Wohin denn ich? Es leben die Sterblichen
von Lohn und Arbeit; wechselnd in Müh und Ruh
ist alles freudig; warum schläft denn
nimmer nur mir in der Brust der Stachel?
Am Abendhimmel blühet ein Frühling auf;
unzählig blühn die Rosen und ruhig scheint
die goldne Welt; o dorthin nehmt mich,
Purpurne Wolken! und möge droben
in Licht und Luft zerrinnen mir Lieb und Leid! -
Doch, wie verscheucht von törichter Bitte, flieht
der Zauber; dunkel wird's und einsam
unter dem Himmel, wie immer, bin ich -
Komm du nun, sanfter Schlummer! zu viel begehrt
das Herz; doch endlich, Jugend! verglühst du ja,
du ruhelose, träumerische!
Friedlich und heiter ist dann das Alter.
Friedrich Hölderlin (1770 - 1843)
Herbst
Die Blätter fallen, fallen wie von weit,
als welkten in den Himmeln ferne Gärten,
sie fallen mit verneinender Gebärde.
Und in den Nächten fällt die schwere Erde
aus allen Sternen in die Einsamkeit.
Wir alle fallen. Diese Hand dafällt.
Und sieh dir andre an: es ist in allen.
Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält.
Rainer Maria Rilke, Prag 1875 - Val-Mont bei Montreux 1926
Nur wer die Vergangenheit kennt, hat eine Zukunft.
Wilhelm von Humboldt (Potsdam 1767 - Berlin-Tegel 1835)